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Die Diskussion um die CO₂-Emissionen von Gebäuden fokussierte sich lange fast ausschließlich auf den Energieverbrauch im Betrieb – etwa für Heizung, Kühlung oder Strom. Doch ein erheblicher Teil der klimaschädlichen Emissionen entsteht bereits vor dem Einzug: bei der Herstellung, dem Transport und dem Einbau von Baumaterialien sowie bei Rückbau und Entsorgung. Dieser sogenannte „Embodied Carbon“, also das im Gebäude gebundene CO₂, macht je nach Bauweise bis zu 50 % der Gesamtemissionen eines Gebäudes über seinen Lebenszyklus hinweg aus – Tendenz steigend bei energieeffizienten Neubauten. Vor dem Hintergrund zunehmender Regulierungen, ESG-Kriterien und steigender CO₂-Bepreisung rückt das Thema immer stärker in den Fokus von Projektentwicklern, Investoren und Asset Managern. Eine präzise Bewertung und Reduktion des gebundenen Kohlenstoffs wird damit zu einem entscheidenden Hebel für klimabewusstes Bauen und nachhaltige Portfoliostrategien.
Emissionen ganzheitlich betrachten
Der Begriff Embodied Carbon – auf Deutsch „gebundener Kohlenstoff“ – bezeichnet alle CO₂-Emissionen, die im Zusammenhang mit der Herstellung, dem Transport, dem Einbau, der Instandhaltung und dem Rückbau von Baumaterialien entstehen. Er umfasst also sämtliche Emissionen, die im Lebenszyklus eines Gebäudes vor und nach der Nutzungsphase anfallen. Dazu zählen zum Beispiel Emissionen durch die Zementproduktion, den Stahltransport zur Baustelle, den Energieeinsatz beim Einbau oder die Entsorgung von Bauteilen am Lebensende eines Gebäudes. Diese Emissionen sind fest mit dem Material und der Konstruktionsweise eines Gebäudes verbunden und lassen sich – anders als Betriebsemissionen – nach Fertigstellung kaum noch beeinflussen.
Embodied Carbon unterscheidet sich damit grundlegend vom Operational Carbon, also den CO₂-Emissionen während der Gebäudenutzung (z. B. durch Heizenergie oder Stromverbrauch). Während letztere durch technische Modernisierungen oder den Wechsel zu Ökostrom im Betrieb reduziert werden können, ist der gebundene Kohlenstoff eine Art CO₂-„Startkapital“, das bereits mit der Errichtung „ausgegeben“ wird. Umso wichtiger ist es, diesen Anteil frühzeitig in Planung und Materialwahl zu integrieren. Die genaue Quantifizierung erfolgt durch Lebenszyklusanalysen, die alle Phasen eines Gebäudes berücksichtigen – von der Rohstoffgewinnung bis zur finalen Entsorgung.
Lebenszyklusphasen und ihre CO2-Relevanz
Die Bewertung des Embodied Carbon erfolgt in der Regel entlang definierter Lebenszyklusphasen, die sich in internationalen Normen wie der DIN EN 15978 widerspiegeln. Typisch ist dabei die Einteilung in Module: A (Herstellung und Bau), B (Nutzungsphase), C (Ende des Lebenszyklus) und D (Wiederverwendung und Recyclingpotenziale). Besonders relevant für den Embodied Carbon sind die Phasen A1–A5 – von der Rohstoffgewinnung über Produktion, Transport und Einbau – sowie C1–C4, die Rückbau, Abfalltransport, Verwertung und Deponierung abdecken. Diese „Cradle-to-Grave“-Betrachtung bildet den vollständigen Lebensweg eines Baumaterials ab und zeigt, wie viele Emissionen bereits vor und nach der Nutzung eines Gebäudes entstehen.
In der Praxis wird zur Vereinfachung häufig auch eine „Cradle-to-Gate“- oder „Cradle-to-Site“-Analyse durchgeführt, bei der nur die Emissionen bis zum Verlassen des Werkstors bzw. bis zur Baustelle berücksichtigt werden. Für eine vollständige CO₂-Bilanzierung im Sinne nachhaltiger Immobilienstrategien reicht das jedoch nicht aus. Denn auch Wartung, Ersatz von Bauteilen während der Nutzung und der Energiebedarf für Abriss und Entsorgung tragen erheblich zur Gesamtbilanz bei. Deshalb ist ein ganzheitlicher Lebenszyklusansatz entscheidend – nicht nur für die Umweltbilanz eines Gebäudes, sondern auch für langfristige Investitionsentscheidungen im Kontext von ESG und EU-Taxonomie.
Methoden der CO₂-Bilanzierung im Gebäudesektor
Die gängigste Methode zur Ermittlung des Embodied Carbon ist die Lebenszyklusanalyse (Life Cycle Assessment, LCA), die in der Baubranche auf der Norm DIN EN 15978 basiert. Diese Norm definiert einheitliche Verfahren zur Bewertung der ökologischen Auswirkungen eines Gebäudes entlang aller Lebenszyklusphasen. Im Zentrum steht die Berechnung der Treibhausgasemissionen, ausgedrückt in Kilogramm CO₂-Äquivalenten pro Quadratmeter Bruttogrundfläche. Grundlage der Analyse sind Bauproduktdaten – sogenannte Environmental Product Declarations (EPDs) – die Informationen zu Emissionen in den Phasen Produktion, Nutzung und Entsorgung enthalten. Die Qualität und Genauigkeit der LCA hängt dabei wesentlich von der Verfügbarkeit belastbarer Daten und der klaren Definition der Systemgrenzen ab.
Zur praktischen Umsetzung kommen zunehmend digitale Tools zum Einsatz, die die CO₂-Bilanzierung automatisieren und in die Planungsprozesse integrieren. Softwarelösungen wie One Click LCA, eLCA (des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung) oder ATHENA ermöglichen die Modellierung komplexer Gebäude anhand von Materiallisten, Mengenangaben und Bauweisen. In Verbindung mit BIM (Building Information Modeling) lassen sich bereits in frühen Planungsphasen Szenarien vergleichen und CO₂-optimierte Entscheidungen treffen. Für Real Estate Asset Manager eröffnen diese Instrumente die Möglichkeit, die Kohlenstoffbilanz bereits bei der Projektentwicklung systematisch zu berücksichtigen und Investoren sowie Aufsichtsbehörden fundierte Nachhaltigkeitsnachweise zu liefern.
Relevanz der Materialwahl und Konstruktion
Die Wahl der Baumaterialien hat einen entscheidenden Einfluss auf den Embodied Carbon eines Gebäudes. Materialien wie Stahl, Aluminium oder Beton sind besonders emissionsintensiv in der Herstellung, während Holz, Lehm oder Recyclingbeton vergleichsweise niedrige CO₂-Werte aufweisen. Auch die Konstruktionsweise spielt eine Rolle: Massive Bauweisen mit viel Beton und Stahl verursachen tendenziell höhere gebundene Emissionen als modulare oder hybride Systeme mit einem hohen Anteil nachwachsender oder wiederverwerteter Rohstoffe. Eine gezielte Materialsubstitution – etwa durch Holztragwerke, Rezyklate oder CO₂-reduzierten Zement – kann den CO₂-Fußabdruck signifikant senken, ohne zwangsläufig die bauliche Qualität oder Nutzungsflexibilität zu beeinträchtigen. Für Bauherren und Asset Manager lohnt sich daher der frühzeitige Einbezug von Ökobilanzierungsdaten in die Planungsentscheidungen – nicht nur aus Klimaschutzgründen, sondern auch im Hinblick auf künftige CO₂-Kosten und ESG-Anforderungen.
Bedeutung für Projektentwicklung und Investitionsentscheidungen
Der Embodied Carbon wird zunehmend zu einem strategischen Faktor bei der Bewertung von Immobilienprojekten. In Zeiten wachsender ESG-Verpflichtungen, steigender CO₂-Bepreisung und wachsender Anforderungen institutioneller Investoren rückt die Kohlenstoffbilanz eines Gebäudes als Bestandteil der Wirtschaftlichkeitsrechnung in den Vordergrund. Projektentwickler, die bereits in frühen Planungsphasen gebundene Emissionen berücksichtigen und reduzieren, schaffen nicht nur langfristig werthaltige und zukunftssichere Assets, sondern verbessern auch ihre Position gegenüber Investoren, Banken und Regulierungsbehörden. Die Integration von Embodied-Carbon-Analysen in Projektentscheidungen ermöglicht es zudem, gezielte Maßnahmen zur Dekarbonisierung in die Due-Diligence-Prozesse und das Risikomanagement zu integrieren – ein entscheidender Vorteil im zunehmend nachhaltigkeitsgetriebenen Immobilienmarkt.
Regulatorische Entwicklungen und Marktanforderungen
Auch regulatorisch gewinnt das Thema Embodied Carbon an Relevanz. Die EU-Taxonomie, die Level(s)-Initiative sowie nationale Förderprogramme wie das Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude (QNG) fordern zunehmend die Offenlegung und Reduktion grauer Emissionen. In Ländern wie Frankreich oder den Niederlanden sind CO₂-Grenzwerte für Neubauten bereits gesetzlich verankert, in Deutschland werden solche Vorgaben derzeit vorbereitet. Parallel dazu steigen die Anforderungen institutioneller Investoren und ESG-Rating-Agenturen, die eine ganzheitliche CO₂-Bilanzierung als Bestandteil der Nachhaltigkeitsbewertung einfordern. Immobilienunternehmen, die auf diese Entwicklungen proaktiv reagieren, stärken nicht nur ihre regulatorische Resilienz, sondern positionieren sich als Vorreiter im Transformationsprozess hin zu einer klimaneutralen Bau- und Immobilienwirtschaft.
Fazit
Die Berücksichtigung des Embodied Carbon ist kein optionales Nachhaltigkeitsthema mehr, sondern ein strategischer Imperativ für die Immobilienbranche. Wer heute baut oder investiert, trifft Entscheidungen, die den CO₂-Fußabdruck über Jahrzehnte hinweg prägen – lange bevor das Gebäude in Betrieb geht. Eine präzise Lebenszyklusanalyse, die Auswahl emissionsarmer Materialien und die frühzeitige Integration von Klimakriterien in Planung und Projektsteuerung sind zentrale Hebel, um ökologische Verantwortung mit wirtschaftlicher Weitsicht zu verbinden. Asset Manager, die den gebundenen Kohlenstoff aktiv steuern, schaffen nicht nur zukunftsfähige Immobilienwerte, sondern leisten einen substantiellen Beitrag zur Dekarbonisierung des Gebäudesektors.
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